12 Die Kreuzqualle

Fünfzig Jahre Vereinsgeschichte laden zum Erinnern ein, und wer dieser Einladung folgt, stößt unweigerlich auf die Kreuzqualle. Als Vereinszeitung des SCK dokumentiert sie einen Abschnitt in der Entwicklung unseres Vereins. Die dort abgedruckten Berichte und Nachrichten bilden einen wichtigen Fundus bei dem Bemühen, einzelne Begebenheiten, Erfolge und Personen der Vereinsgeschichte dem Vergessenwerden zu entreißen. Doch der Wert der Kreuzqualle erschöpft sich nicht in dieser Funktion eines inoffiziellen SCK-Archivs. Als Wegbegleiter eines Stücks Vereinsgeschichte ist sie selbst zu einer Institution geworden. Das ist Grund genug, diesen Spiegel unseres Vereinslebens zu einem eigenständigen Gegenstand der rückblickenden Betrachtung zu machen.

Die äußeren Daten der Kreuzqualle sind schnell erzählt. Läßt man die späteren Versuche einer Wiederbelebung dieses Blattes zunächst beiseite, so gab es in der Zeit von Juni 1972 bis November 1977 insgesamt 18 Ausgaben der Original-Kreuzqualle (einer "0. Ausgabe" stand das Doppelheft Nr. 10/11 gegenüber). Der Umfang der einzelnen Hefte schwankte zwischen 24 und 48 Seiten (im DIN-A5-Format); in der Addition beläuft sich der Gesamtumfang aller 18 Ausgaben auf immerhin 564 Seiten. Die Auflagenstärke wurde in den Heften 7 bis 13 mit 300 Exemplaren angegeben, danach erhöhte sie sich sogar auf 700 Exemplare (zum Vergleich: der Mitgliederstand des SCK lag am 30.11.1975 bei 165 Mitgliedern). Die Kreuzqualle wurde grundsätzlich unentgeltlich abgegeben (als "Quallen"-Finanzquellen nennt das Blatt neben den von Werner Ott erwirtschafteten Thekengewinnen Werbeeinnahmen und Spenden).

Ausweislich des Impressums lag die Verantwortung für den Inhalt der Kreuzqualle bei Rainer Albrecht, Horst Metzing und Hubertus Schulze (bis zu seinem berufsbedingten Weggang nach München nach der 17. Ausgabe im Juni 1977). Im Jahre 1974 traten ferner Bernd Waniewski und Heinz Lunow in die Redaktion ein, der auch Heinrich Bollack (für die Ausgaben 7 bis 9) und Fritz Stutzke (für die Ausgabe 18) angehörten. Was sich wie eine bloße Auflistung von Namen liest, ist in Wahrheit zu einem guten Teil die "chemische Formel" des Erfolgsrezepts. Das ursprüngliche Dreigestirn Albrecht/Metzing/Schulze war bei unterschiedlichem Temperament und individueller Akzentuierung durch ein hohes Maß an sprachlicher Ausdruckskraft verbunden, die von Heinz Lunow gezeichneten Karikaturen sorgten für eine optische Auflockerung der Hefte, und Bernd Waniewski übernahm die (ungeschriebene) Rolle des engagierten Chefredakteurs. Ferner stand mit Fritz Stutzke ein Fachmann aus dem graphischen Gewerbe zur Verfügung, der im Jahre 1975 die (für den Verein kostenlose) Herstellung der Zeitschrift übernahm und durch seine Fotos die Attraktivität der Kreuzqualle (von der 12. Ausgabe an) zusätzlich erhöhte. Diese einander ergänzenden Fähigkeiten bildeten die Grundvoraussetzung für eine über mehrere Jahre währende erfolgreiche Zusammenarbeit. Um den Dank, der diesen Schachfreunden für ihre Tätigkeit gebührt, gerecht zu bemessen, muß man sich auch die Mühen vergegenwärtigen, mit denen die Herstellung der Kreuzqualle damals verbunden war. Da uns heute die Textverarbeitung und die Anfertigung graphischer Darstellungen mittels eines Computers zur Selbstverständlichkeit geworden sind, ist daran zu erinnern, daß die Macher der Kreuzqualle um maschinengeschriebene Beiträge baten, die Schachdiagramme durch Abreiben der Figuren von Folien entstanden und Schere und Klebestift unentbehrliche Requisiten der Redaktionskonferenzen waren.

Die Kreuzqualle verdankt ihren Erfolg ferner dem Umstand, daß es immer wieder gelang, weitere Autoren zu gewinnen, mit deren Hilfe das Blatt abwechslungsreich und interessant gestaltet werden konnte. Mit jeweils mehreren Beiträgen beteiligten sich z.B. der Fernschachweltmeister Jakob Estrin, Großmeister Ludek Pachman (u.a. mit Kommentaren zu Partien des Kreuzberger Teilnehmers an der Jugendweltmeisterschaft 1975, Horst Bach) sowie der Internationale Meister Jürgen Dueball (u.a. mit einem Bericht als Teilnehmer an der Schacholympiade Skopje 1972). Neben diesen prominenten Koryphäen des königlichen Spiels gab es viele Schachfreunde, die sich nicht nur an der Lektüre der Kreuzqualle erfreuten, sondern aktiv zu ihrem Gelingen beitrugen, indem sie Artikel verfaßten, Partien kommentierten oder sogar Gedichte schrieben (Bernhard Skierwiderski, Robert Fischer). Die Tatsache, daß sich in den 18 Ausgaben Beiträge von ca. 40 verschiedenen Autoren finden, belegt eindrucksvoll, daß die Kreuzqualle im besten Sinne eine wirkliche Vereinszeitung gewesen ist: eine Zeitschrift von Mitgliedern für Mitglieder.

Mit der großen Zahl an Mitarbeitern ergab sich auch die thematische Vielfalt beinahe von selbst. Eine auch nur halbwegs vollständige Auflistung der einzelnen Beiträge würde den Rahmen dieses kurzen Rückblicks sprengen. Immerhin lassen sich neben den "selbstverständlichen" Berichten über die vereinsinternen Schachveranstaltungen zumindest einige Schwerpunkte benennen: Ein Anliegen der Kreuzqualle bestand gewiß darin, die Spielstärke ihrer Leser zu steigern. Diesem Ziel dienten zum einen mehrere Artikel zur Eröffnungs- und Endspieltheorie, zum anderen die von Hans-Joachim Plesse betreute Rubrik der (insgesamt 70) "Badewiesen-Kombinationen" - zur Erklärung: die "Badewiese" bezeichnet einen Kreis Kreuzberger (Nicht-nur-) Schach-Enthusiasten; in späteren Jahren ging hieraus eine Gruppe von Vereinsmitgliedern hervor, die sich samstags nachmittags vor dem Reichstag zum Fußballspielen traf. Zu diesem Komplex der Erweiterung des schachlichen Horizonts gehören auch der Abdruck eines Aufsatzes von Großmeister Nikolai Krogius zur Zeitnot sowie Beiträge, in denen über Computerschach berichtet, die Berechnung der Elo-Zahl erläutert (in Kreuzqualle Nr. 7 mit den damaligen Elo-Zahlen von 118 SCK-Mitgliedern) oder über die mathematische Berechtigung der Sonneborn-Berger-Wertung diskutiert wurde. Ein zweiter thematischer Schwerpunkt läßt sich mit dem Schlagwort der "Reiseberichte" umreißen. Eine besonders eingehende Nachbetrachtung erfuhren insoweit die Vereinsreise nach Bad Hersfeld (1977) sowie ein Trainingslager mit IM Jürgen Dueball in Helmstedt (1973). Doch auch die von Einzelspielern verfaßten Berichte über die von ihnen z.T. schon traditionsgemäß besuchten Turniere (insbesondere Biel) luden die Daheimgebliebenen ein, sich im nächsten Jahr den Schachurlaubern anzuschließen. In einer dritten Gruppe lassen sich jene Artikel zusammenfassen, die sich auf Teilgruppen innerhalb des SCK, insbesondere auf die einzelnen Mannschaften und auf die Jugendabteilung, beziehen. Ferner war die Kreuzqualle - viertens - ein Forum, in dem über vereinsinterne Themen diskutiert werden konnte. So wurde über die Gestaltung der Clubmeisterschaft nachgedacht, die "Liga 'Saubere Lunge'" startete ihre "Gegenoffensive" zum Schutz der Nichtraucher, und es wurde die Frage aufgeworfen, ob unsere Talente verheizt werden (o glücklicher SCK!); auch zur Frage, inwieweit Würfel- und Kartenspiele in den Vereinsräumen toleriert werden sollten, gab es zahlreiche Beiträge, die jedoch nicht zum Abdruck kamen, nachdem dieses Problem durch einen allseits akzeptierten Kompromiß gelöst worden war. Aus dem üblichen Rahmen fiel schließlich die 14. Ausgabe, die als Turnierbulletin des vom SCK im Jahre 1976 ausgerichteten Internationalen Jugendturniers erschien. Dieser erste Überblick wäre jedoch unvollständig, würde er nicht auch auf die unterhaltsame und launige Seite der Kreuzqualle hinweisen, die in mehreren Beiträgen ihren Niederschlag fand. So wurden die Kreuzquallen-Leser mit den "Märchenschach"-Varianten des Münzschachs und des Verwandlungsschachs vertraut gemacht. Rainer Albrecht, der mit insgesamt 29 Beiträgen als (freilich recht junger) "Anchorman" der Kreuzqualle bezeichnet werden könnte, gab in seinem Aufsatz "Über schachliches Sprücheklopfen" Hilfestellung, wie man einen Figurengewinn in Worte kleidet. In dieser Hinsicht fortgeschrittene Jünger Caissas waren gewiß erfreut, in einer späteren Ausgabe den Nachdruck eines Beitrags mit dem Titel "Wie wird man ein überheblicher Schachspieler?" zu finden, und wäre das Buch "Wie man beim Schach bescheißt" von William R. Hartston (1986) zehn Jahre früher erschienen, so wäre dieses Werk wohl einer Rezension in der Kreuzqualle für würdig befunden worden.

Nach der 18. Ausgabe (November 1977) stellte die Kreuzqualle ihr Erscheinen unerwartet ein. Allerdings gab es auch in der Folgezeit mehrfach Bemühungen, die Kreuzqualle wiederzubeleben. In den Jahren 1983 und 1984 entstanden unter der Initiative von Joachim Werth jeweils zwei Ausgaben, und zwischen Februar 1985 und Januar 1987 erschienen neun Hefte, die von Brigitte und Rainer Große Honebrink herausgegeben wurden. Den bislang letzten Versuch, die Kreuzqualle erneut anzukurbeln, unternahm Martin Wittke im März 1991. Auch die in diesen "Nachzüglern" steckende Arbeit verdient Dank und Anerkennung für jene, die diese Anläufe gestartet oder durch ihre Beiträge unterstützt haben. Daß es zu dem erhofften Wiederaufblühen der Kreuzqualle nicht gekommen ist, liegt nicht an denjenigen, die sich für dieses Ziel engagiert haben.

Die letztlich vergeblich gebliebenen Anstrengungen könnten zu einer wehmütigen Sichtweise verleiten, so als gälte es, die Geschichte eines Patienten zu erzählen, der ungeachtet zahlreicher Reanimationsbemühungen schließlich doch gestorben ist. Eine solche depressive Rückschau wird dem Gegenstand der Betrachtung jedoch nicht gerecht. Vielmehr muß man anerkennen, daß viele Faktoren zusammentreffen müssen, um eine Vereinszeitschrift über eine längere Zeit hinweg erfolgreich zu gestalten. Diese günstigen Bedingungen, die auch bei noch so gutem Willen Einzelner nicht ohne weiteres reproduzierbar sind, waren zu Beginn der 70er Jahre gegeben. Man hatte erst vor kurzem das eigene Vereinsheim bezogen, verfügte über eine junge und starke erste Mannschaft, und es fand sich ein Personenkreis, der auch über das eigentliche Schachspielen hinaus gemeinsame Aktivitäten entfaltete. Die Anfangsjahre der Kreuzqualle waren gekennzeichnet von einer stark expandierenden Jugendabteilung und von bedeutenden schachlichen Erfolgen bis hin zum Weg in die 1. Bundesliga. Im Zuge dieser allseits günstigen Entwicklung bildete sich ein gestärktes Zusammengehörigkeitsgefühl heraus, das alle Mitglieder und Teilgruppierungen des Vereins umschloß und sich in zahlreichen Schachfahrten und Freundschaftskämpfen weiter festigte. Ohne jede verklärende Rührseligkeit kann man feststellen, daß die Jahre der Kreuzqualle sehr gute Jahre in der Geschichte des SCK waren. Die Kreuzqualle hat als vereinsinterner Integrationsfaktor Anteil an diesem Erfolg; sie hat von dieser Entwicklung aber zugleich in der Weise profitiert, daß stets genügend Stoff für interessante Berichte vorhanden war und sich auch der Kreis der Mitarbeiter zunehmend erweiterte. Dieser ansteckende Tatendrang ist bereits in der "0. Ausgabe" (Juni 1972) zu spüren, in der das Programm der Kreuzqualle wie folgt umrissen wurde:

"Verlorene Mühe - - oder höchste Zeit ?

Wahnsinn - wird mancher rufen, dem dieses Blättchen als elfundneunzigstes schachliterarisches Erzeugnis durch die Finger läuft. Endlich - werden alte Kreuzberger seufzen, die jahrelang die Kreuzberger Sünde, keine Vereinszeitung zu haben, anprangerten.

Diese erste Zeitung des SCK beansprucht Ihre Aufmerksamkeit zu einer Zeit, da der Verein sich anschickt, aus seiner Vielzahl von Mitgliedern heraus einen Höhepunkt an Leistungsstärke und damit an Ansehen im Berliner Schachleben zu erreichen. Es reicht aber nicht, zufrieden Erfolge zu verbuchen! Nicht zuletzt dieses Organ soll dazu dienen, unseren großen Verein zu einem geschlossenen Ganzen, sozusagen zu einer "schlag"-fertigen Gemeinschaft zu formen. Lapidare Pressemitteilungen und einige Aushänge am Schwarzen Brett reichen dazu nicht, das weiß jeder.

Ein großes Anliegen: Unsere Jugend muß zu Wort kommen. Wann ist der SCK wieder Hochburg des Jugendschachs (wie 1967, wo die Mannschaft des Deutschen Jugendmeisters fast ausschließlich aus Kreuzbergern bestand)??

Vielleicht fragen Sie jetzt: Nur ernste Probleme in der Kreuzqualle? Keineswegs! Sollte die nötige Unterstützung seitens der Clubmitglieder nicht ausbleiben, so werden Sie Theoriebeiträge, kommentierte Partien und ein paar Seitensprünge auf Märchenschacharten (wer letztere allzu ernst nimmt, ist selber schuld!) auch in den nächsten Nummern entdecken.

Fazit: Weder Schachmatnij noch Klatschblättchen - die Kreuzqualle, ein wenig unterhaltsam und lehrreich, will Information auf Vereinsebene und bittet um I H R E finanzielle und ideelle Unterstützung.

D. Red."

Was hier voller Selbstbewußtsein und mit einem Anflug von Ironie (also in typischer Kreuzquallen-Manier) als Vorspann formuliert wurde, kann mit dem Abstand von mehr als einem Vierteljahrhundert auch als resümierende Zusammenfassung Zustimmung finden. Die Kreuzqualle ist ihrem selbstgesteckten Anspruch gerecht geworden. Deshalb wäre es durchaus verständlich, wenn diese Leseprobe in Ihnen den Wunsch wecken würde, selbst einmal (wieder) in den alten Heften zu blättern und sich daran zu erinnern, wie "das alles" damals gewesen ist und wie Sie oder Ihre Schachfreunde vor 25 Jahren ausgesehen haben. Da komplette Kreuzquallen-Ausgaben rar sind (und von ihren Eigentümern mit Zähnen und Klauen verteidigt werden), wurden anläßlich unseres Jubiläums für unsere Vereinsbibliothek zwei (zum Teil fotokopierte und zusammengebundene) Gesamtausgaben hergestellt. Viel Spaß beim Schmökern!