Ich sehe was, was ihr nicht seht

Kommentar von Wilhelm Schlemermeyer zum Bericht von Rainer Polzin über den Zweitliga-Wettkampf SF Berlin gegen SC Kreuzberg 2

Unter dem Titel "Zurück in die 1. Liga" hat Rainer Polzin, der Mannschaftsführer der ersten Mannschaft der Schachfreunde Berlin, auf der Website seines Vereins einen Bericht über den entscheidenden Wettkampf gegen uns, d.h. die zweite Mannschaft des SC Kreuzberg, verfasst. Üblicherweise geben solche Berichte die Stimmung und die subjektive Sichtweise des eigenen Vereins bzw. der eigenen Mannschaft wieder. Das ist so und wie es neuberlinerisch heißt: Das ist auch gut so. Besondere Ansprüche an Ausgewogenheit oder Distanz des Berichterstatters sind dabei fehl am Platze. Dennoch möchte ich Rainer Polzins "offizielle" Darstellung der Schachfreunde, die auch auf der Website des Berliner Schachverbandes verlinkt ist, in zwei Punkten nicht unkommentiert lassen.

Der erste Punkt betrifft eine Frage des Benehmens bzw. des Geschmacks. Abfällige Bemerkungen über Mitglieder des Gastvereins, wie sie Rainer Polzin in seinem Spielbericht gegenüber unserer Mannschaftsführerin Brigitte Große-Honebrink, Atila Gajo Figura und Sergey Kalinitschew macht, gehören sich einfach nicht. Dass aus Kreuzberger Spielern oder Kreuzberger Zuschauern (der Leser erfährt es nicht) "die Kreuzberger" werden oder aus Gästen "vermeinlich neutrale Zuschauer" werden, gefällt mir ebenso nicht, und mag von dem einen oder anderen auch als persönliche Beleidigung verstanden werden. Um diesen Punkt etwas polemisch abzuschließen: Lieber Rainer, mindestens in punkto korrektes Benehmen an und neben dem Brett kannst Du von Atila vielleicht noch etwas lernen.

Der zweite Punkt betrifft meine Zeitnotpartie gegen Lars Thiede. Hier möchte ich etwas ausholen. (Wem das zu lange dauert, der kann gleich zum übernächsten Absatz springen.) Mir liegt daran klarzustellen, dass dies kein Streitfall mit den Schachfreunden Berlin oder einem ihrer Spieler war. Ich habe mich weder an dem Spieltag noch danach einem Spieler der Schachfreunde etwas vorgeworfen. Ganz im Gegenteil, Lars Thiede hat sich vollkommen korrekt verhalten. Und ich habe versucht deutlich zu machen, dass sich mein Protest nicht gegen ihn richtet. Wenn es keine Zeitüberschreitung gewesen wäre, hätte Lars die Partie auch ganz verdient gewonnen. Aber ich möchte mich nicht wiederholen. Meine Sicht der Ereignisse habe ich bei Rankzero ausführlich geschildert. Kurz: Die Kritik zielte allein auf den Schiedsrichter, der in der Zeitnotphase völlig versagt hat. Mir scheint inzwischen, dass er lieber mich "in die Pfanne haute", anstatt sein eigenes Fehlverhalten zuzugeben. Das wäre bei einem "fremden" Schiedsrichter für mich möglicherweise sogar leichter hinzunehmen gewesen. Gerade dass ich den Schiedsrichter persönlich kenne und auch schätze, machte das am Sonntag für mich sehr schwer, ja unmöglich, sein Verhalten zu akzeptieren. Ich muss gestehen, ich habe mich ziemlich "aufgeführt".

Nun ist gegen solche Tatsachenentscheidungen eines Schiedsrichters formal kaum etwas auszurichten. Ein Beispiel ist z.B. im Fußball das Tor, das der der Schiedsrichter beim Hamburger Sportverein für Bayern München gab. Dass Thomas Helmer für alle offensichtlich das Tor verfehlt und den Ball neben dem Pfosten ins Aus geschossen hatte, half den protestierenden Hamburgern wenig. Der Schiedsrichter gab Tor und dabei blieb es. Dank der Fernsehbilder handelte es sich nachweislich um eine Fehlentscheidung. Fernsehbilder gab es am Sonntag beim Schachwettkampf natürlich nicht. Aber es gab Zuschauer, die übereinstimmend (!) gesehen hatten, dass das Blättchen von Lars Thiede vor der Zeitkontrolle gefallen ist. Und es gab Zuschauer, die dies nicht gesehen haben, weil sie die Uhr nicht beobachtet haben. Sie haben entsprechend auch nicht gesehen, dass das Blättchen noch nicht gefallen ist. Zur Erinnerung: Der Schiedsrichter hat nichts gemacht und später hatte er dann nichts gemacht, weil er nichts gesehen hatte. Nur wäre das eben sein Job gewesen. Kurz und gut: Ich und Kreuzberg haben Pech gehabt, Lars und die Schachfreunde Glück. Das kommt vor, wie man sieht. Eigentlich könnte die Geschichte damit beendet sein. Die Punkte sind verteilt und man könnte vermuten, beide Vereine wären sich einig, in Zukunft lieber mit einem etwas fähigeren Schiedsrichter zu spielen. Überraschenderweise scheint das aber nicht so zu sein. Womit ich nun endlich wieder beim zweiten Punkt bin.

Denn in seinem Spielbericht wartet Rainer Polzin plötzlich mit einer völlig neuen Version der Ereignisse auf. Am Sonntag hatte ich von Rainer noch nicht gehört, dass er irgendetwas "gesehen" habe. In Anbetracht der Tatsache, dass alle Zuschauer, die etwas gesehen haben, darin übereinstimmen, dass Lars Thiedes Fallblättchen nach dem 38. oder auch 39. Zug gefallen ist, halte ich Rainer Polzins Darstellung für wenig glaubwürdig. Natürlich kann nur Rainer Polzin selbst wissen, was er gesehen hat oder auch nicht. Offensichtlich hat er sich aber erst nach dem Sonntagabend, nachdem ich das Spiellokal verlassen hatte, dazu durchgerungen, über seine Beobachtungen zu sprechen. (Es gab bis dahin von ihm nur einige "Ankündigungen", über die ich hier aber schweigen möchte.) Bis zum Zeitpunkt seiner Niederschrift seines Spielberichtes müssen sich seine Wahrnehmungen dann hinreichend geklärt haben, um schreiben zu können, dass er "meine", dass die Klappe erst beim 41. Zug gefallen sei, dass er "nicht gänzlich ausschließen könne", dass es schon beim 40. Zug passiert sein könne, "auf jeden Fall" aber nicht vorher. Logischerweise werden dann aus Augenzeugen "vermeintlich neutrale" Zuschauer. Kurz und gut: Lieber Rainer, vielleicht solltest Du nochmal in Dich gehen, Dir einige Gedanken über Legendenbildung machen und prüfen, was Du wirklich gesehen hast. Denn Du bist meines Erachtens auf dem besten Wege, die Leistung des Schiedsrichters noch zu unterbieten. Denn um noch einmal das Fußballbild zu bemühen: Es hätte damals beim HSV-Bayern-Spiel auch keinen vorteilhaften Eindruck gemacht, wenn ein Mannschaftskollege von Thomas Helmer im Aktuellen Sportstudio behauptet hätte, er meine, der Ball sei ins Tor gegangen, auf jeden Fall aber nicht daneben.

Wilhelm Schlemermeyer (29. April 2008)  

Links zum Thema

Spielbericht von Brigitte Große-Honebrink
Darstellung von Wilhelm Schlemermeyer bei Rankzero
Spielbericht von Rainer Polzin
Kommentar zum Polzin-Bericht von Franko Mahn


Richtigstellung

Sonja Beckmann (Queerspringer) und Ulf von Hermann (König Tegel) haben mich auf einen Lapsus meinerseits im obrigen Kommentar aufmerksam gemacht. Vielen Dank dafür! Das "Phantomtor" von Thomas Helmer fiel nämlich nicht gegen den HSV, sondern gegen den 1. FC Nürnberg. Außerdem gab es in diesem Fall keine Tatsachenentscheidung, sondern ein Wiederholungsspiel. Für den für die Fehlentscheidung verantwortlichen Linienrichter endete die Geschichte übrigens tragisch. Hier ein paar Links dazu:

Wikipedia: Phantomtor
Spiegel Online: Ewiger Schmerz wegen elmers Phantomtor
Welt Online: Als Sportkamerad Jablonski sah, was keiner sah

Wilhelm Schlemermeyer, (3. Mai 2008)